Zum Mörder erzogen?
Die mörderische Suche nach Liebe

(Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit

Dr. C. Paulus , Univ. des Saarlandes, 1998
zuletzt geändert am 5.9.12

Gliederung

  1. Ist der Mensch von Geburt an böse?
  2. Bindungstheorie
  3. John Bowlby – Harry Harlow
  4. Bindungsqualitäten (Mary Ainsworth)
  5. Stabilität der Bindungsqualität
  6. Alterbedingte Veränderungen im Bindungsverhalten
  7. Emotionale Konsequenzen unsicherer bzw. disorganisierter Bindung – Das Entstehen von Gewaltfantasien
  8. Der neue Tätertyp "Suche nach Liebe"
  9. Stabilität und Determinismus der Bindung
  10. Beispiele
  11. Literatur

Wenn man nach der Motivation von Serien- oder auch von Sexualmörden fragt, finden sich neben extrinsischen Gründen, wie sie bsplw. bei Auftragskillern vorliegen, in erster Linie die Machtmotivation oder auch sexuell-sadistische Antriebe. Allen gemeinsam ist aber eine bereits seit früher Kindheit ausgeprägte Gewaltfantasie, die Serienmörder von "normalen" Mördern unterscheidet und die sie, meines Wissens nach, auch derzeit nicht therapierbar macht.

Ich möchte hier einen neuen Typus des Serien- und auch Sexualmörders vorstellen, der sich durch den etwas plakativen Titel "Die mörderische Suche nach Liebe" charaktierisieren läßt. Dazu werde ich zunächst etwas ausführlicher die sog. Bindungstheorie erläutern und auch versuchen zu erklären, warum ich glaube, dass die Ursachen für diese deviante Entwicklung dieses Tätertyps in seiner Kindheit zu suchen sind. Ich werde danach ein Modell eines prototypischen Entwicklungsverlaufs darstellen, der auf die meisten Tätertypen generalisierbar ist und der Persönlichkeits- und Umweltfaktoren miteinander in Beziehung bringen wird.

Ist der Mensch von Geburt an böse

Die menschliche Persönlichkeit und deren Entwicklung ist eine sehr komplizierte Angelegenheit. Unstrittig ist, dass es sich bei den Entwicklungsprozessen um eine Interaktion, also ein Zusammenspiel zwischen biologisch-genetischen Veranlagungen und Umwelteinflüssen handelt. Jeder Teil für sich genommen führt nicht zwingend und unmittelbar zu bestimmten Eigenschaften, sondern die Reaktion des einen Teils (Umwelt) auf entsprechenden Veranlagungen steuert die Entwicklung einer menschlichen Persönlichkeit. Nehmen Sie als Beispiel das, was man Begabung oder Talent nennt: Begabung, z.B. musische Begabung, kann von Geburt an vorhanden sein, also irgendwie vererbt. Nun hat die "Umwelt" zwei Möglichkeit, sie kann diese Begabung fördern (durch Unterricht) und insofern die latent (also zunächst verborgen) vorhandenen Fähigkeiten verbessern und optimieren; es besteht aber auch die Möglichkeit, gar nicht darauf einzugehen, also keine Förderung in Form von Musikunterricht zu geben, damit wird das Talent mit der Zeit möglicherweise achtlos verkümmern; ja es ist sogar vorstellbar, dass jede musikalische "Talent" äußerung sanktioniert, also bestraft wird (aus welchen Grund auch immer) und damit unterdrückt wird.

Unstrittig ist weiterhin, dass die Persönlichkeitsentwicklung und auch die Psychopathologie bereits in der Kindheit ihre Wurzeln haben. Darauf hat bereits Sigmund Freud hingewiesen. In seinen und auch in den Ausführungen anderer Kinderpsychiater (bsplw. Adolf Mayer) wurde bereits die Auffassung vertreten, dass die Umwelt, in der ein Kind aufwächst, einen entscheidenden Einfluss auf seine zukünftige psychische Gesundheit hat.

Ich möchte nun nicht die gesamten entwicklungspsychologischen Ereignisse und Phasen der kindlichen Entwicklung beschreiben, dies wäre hier nicht relevant, auch wenn vielleicht Fragen nach Erziehungsstilen, Strafen, emotionalen und kognitiven Entwicklungen ebenfalls Relevanz besäßen. Statt dessen möchte ich etwas über die Bindungstheorie erläutern und warum ich glaube, dass sie als ein zentrales Merkmal sowohl für die Erklärung als auch die Typisierung von extremen Gewalttätern, seien es Serienmörder oder Sexualtäter, dienen kann.

Die Bindungstheorie

John Bowlby – Harry Harlow

Seit vielen Jahren schon sind sich Psychologen und Psychiater darin einig, dass der psychische Zustand eines Menschen stark von den in früher Kindheit erlebten zwischenmenschlichen Beziehungen und deren Qualität abhängt, ob sie warmherzig, responsiv, harmonisch oder aber aggressiv, angespannt und gefühlskalt waren.

John Bowlby, dessen Namen wie kein anderer mit der Bindungsforschung in Verbindung gebracht wird, beobachtete während seiner Tätigkeit als Kinderpsychiater immer wieder, dass Kinder, die in die Obhut fremder Menschen gegeben wurden, sich nichts sehnlicher wünschen, als ihre Mutter wieder zu haben. Dies warf die Frage auf, worin denn die Natur dieses engen Bandes zwischen Mutter und Kind bestünde und welchen Ursprung dies habe. Der erste Gedanke dabei war natürlich, das Kind besäße deshalb eine Beziehung zur Mutter, weil diese es ernährt. Diese Erklärung greift aber nicht ganz (die Gründe dafür schildere ich gleich an einem Experiment). Bowlby kam zu dieser Zeit in Kontakt mit den Forschungen von Konrad Lorenz und beschloss, dessen Ergebnisse zur Prägung im Hinblick auf seine Fragen zu untersuchen. Es entstand die sog. "erste Phase" der Bindungsforschung, in der Bowlby die Funktionen des Bindungssystems zwischen Kind und Bezugsperson (die nicht zwingend die Mutter sein muss!) erkundete. Dieses Bindungssystem gewährleistet beim Kind das Gefühl der Sicherheit in der Umwelt, indem das Kind ständig in Form eines Regelkreises die physische und psychische Verfügbarkeit der Bezugsperson überprüft. Bei Bedrohung wird dieses System aktiviert und führt dazu, dass das Kind Nähe und Körperkontakt zur Bindungsperson sucht. Dass zur Entstehung einer sicheren Bindung (welche anderen Arten es noch gibt, folgt gleich) der Körperkontakt und nicht die Nahrungsquelle ausschlaggebend ist, zeigten die eindrucksvollen Versuch von Harry Harlow in den 60er Jahren. Man trennte Makaken-Äffchen gleich nach der Geburt von ihrer Mutter und steckte sie in einen Käfig, in dem sich zwei künstliche "Mütter" befanden, von denen eine Milch gab, die andere mit einem weichen Handtuch bedeckt war.

Die überwiegende Zeit, insbesondere wenn Gefahr auftrat, kuschelten sie sich eng an die "Handtuchmutter", bei der Drahtmutter verbrachten sie selbst dann wenig Zeit, wenn diese Milch gab.

Die Plüschmutter wurde auch als Ausgangspunkt bei der Erkundung der neuen Umgebung benutzt und die Äffchen flüchteten sich zu ihr, wenn ein Angstreiz gegeben wurde.

Dazu muss man allerdings anmerken, dass die auf diese Art aufgewachsenen Äffchen als ausgewachsenen Tiere sozial inkompetent und waren; diejenigen Weibchen, die künstlich befruchtet wurden, erwiesen sich als gewalttätige und rabiate Mütter. Ein Kontakt mit Gleichaltrigen während des Auswachsens verminderte diese Phänomene etwas.

Diese Befunde nahm Bowlby als Erklärungsansätze der kindlichen Reaktionen auf Trennung und Verlust sowohl auf Verhaltens- als auch auf emotionaler Ebene.

Bindungsqualitäten (Mary Ainsworth)

Mary Ainsworth, der zweite eng mit der Bindungstheorie verknüpfte Name, entwickelte diese Ideen weiter und konzentrierte sich auf die Erforschung unterschiedlicher Verhaltensmuster in kurzen Trennungssituationen. In der sog. "Fremde Situation" kann bei 1- bis 2jährigen Kindern die Interaktion zwischen Erkundungs- und Bindungsverhalten beobachtet werden: Dazu werden die Kinder zusammen mit ihrer Mutter in einem fremden, aber übersichtlichen Raum gebracht. In diesem Raum stehen zwei Stühle (für die Mutter und später hereinkommende Fremde) und ein mit attraktivem Spielzeug ausgestatteter Spielteppich. Zunächst wird das Erkundungsverhalten des Kindes beobachtet, dann tritt eine freundliche (fremde) Person ein, die erst mit der Mutter, dann mit dem Kind Kontakt aufnimmt; die Mutter verläßt daraufhin kurz den Raum, aber die fremde Person ist noch bei dem Kind; später verläßt die Mutter erneut den Raum und das Kind ist kurzfristig allein, bevor die Mutter wieder zurückkommt.

Insbesondere bei der Rückkehr der Mutter zeigten sich Unterschiede im Bindungsverhalten, die als "sicher" bzw. "unsicher gebunden" klassifiziert wurden:

Seit den 80er Jahren wurde das Phänomen genauer untersucht, dass es immer wieder Kinder gab, die in der Fremde-Situation völlig abwegiges, unverständliches Verhalten zeigten und zwar in ausgeprägterer Form als gewöhnlich, jedoch nur für kurze Zeit, ca. 10-30 Sekunden:

Da es hierbei um eine Unterbrechung des normalen, organisierten Verhaltens handelt, wurde diese Gruppen nach wiederholter empirischer Bestätigung als ein eigenständiger, vierter Bindungstyp klassifiziert, den man desorganisiert/desorientiert (D-Typ) nennt. Besonders deutlich wurde dies in einer Abwandlung der Fremde-Situation, wenn nämlich ein Clown das Zimmer betrat und in der Tür für 30 Sekunden regungslos und ohne ein Wort zu sagen stehen blieb. Normalerweise griffen die Kinder erschrocken nach der Hand der Mutter und begannen aber dann, den Clown zu betrachten. Als desorganisiert klassifizierte Kinder begannen ein verzweifeltes Schreien und spannten ihrer Körper stark an, um aufrecht zu bleiben, sie schienen wie festgewurzelt in ihrer Angst; andere lehnten sich mit dem Kopf an die Wand und blickten mit verängstigten Augen rückwärts zum Clown. Dieses auch "the look of fear with nowhere to go"- genannte Verhalten besaß eine echte Alptraumqualität; die Kinder waren unfähig, ihre Angst zu unterdrücken, sie besaßen keine Lösung für ihre Angst und sahen auch keinen Ort, wo sie sich hinwenden konnten (obwohl die Bezugsperson im Raum war) (Solomon & George, 1991). Bei nachfolgenden Untersuchungen zeigte sich, dass bei misshandelten Kindern ca. 80% diesen Bindungstyp aufwiesen.

Im Gegensatz zu unsicher gebundenen Kindern, die Strategien für angstauslösende Situationen entwickelt haben, scheint desorganisiertes/desorientiertes Verhalten einen Zusammenbruch dieser Strategien darzustellen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Bedrohung direkt von der Bezugsperson ausgeht, was in vielen Kindheitserlebnissen von Serienmördern geschildert wird. Hier einige Beispiele:

Die schlimmste Form der Bedrohung ist natürlich eine Misshandlung oder sexueller Missbrauch, worauf ich später noch einmal eingehen werde.

Während für die Genese einer sicheren Bindung in erster Linie die Responsivität der Mutter entscheident zu sein scheint, deuten mehrere Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass die desorganisierte Bindung in engem Zusammenhang mit von Geburt an vorhandenen Persönlichkeitsdispositionen wie einer eingeschränkten Verhaltensorganisation einhergeht (Spangler, 1998). Könnte dies ein Anzeichen dafür sein, dass Serienmörder doch "geboren werden"?

Stabilität der Bindungsqualität

Die Qualität der Bindungsbeziehung, wie sie sich im Laufe des ersten Lebensjahres entwickelt, erregte deshalb in der Forschung so großes Aufsehen, weil die Bindungsklassifikation im Vergleich zu sonstigen psychologischen Daten aus dieser Entwicklungsperiode, eine erstaunliche Stabilität über die Zeit hinweg zeigt. Dies kann bis ins Erwachsenenalter hinein beobachtbar sein, obwohl im Laufe einer "normalen" Entwicklung natürlich viele weitere Bindungsphasen durchlaufen werden. Ebenso können die Bindungsqualitäten zur Mutter unterschiedlich zu der des Vaters sein, so kann ein Kind beispielsweise zum Vater eine sichere, zur Mutter aber eine desorientierte Bindung aufweisen. Allerdings genügt normalerweise nur eine sichere Bindung nicht, um als Erwachsener ein "autonomes Arbeitsmodell von Bindung zu entwickeln" (Fremmer-Bombick, 1997), wobei in Interviews mit 16-jährigen besonders deutlich der Einfluss von Scheidung, schwerer Krankheit oder Verlust einer Bindungsfigur deutlich wurde (Zimmermann, 1994). Der Einfluss der mütterlichen Bindungsqualität zeigt jedoch, langfristig gesehen, den größeren Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung des Kindes (Zimmermann, 1997, S. 213).

Die bis ins Erwachsenenalter hinein beobachtbare Stabilität resultiert in erster Linie nicht aus einer relativ stabilen Umwelt –davon auszugehen wäre recht unrealistisch- sondern vielmehr von einer durch die vorhandenen mentalen Modelle (von Mutter, Vater, Umwelt) selektierten Wahrnehmung. Jede Reaktion der Umwelt wird im Sinne dieser Modelle wahrgenommen und interpretiert. Mit zunehmendem Alter wird ein Kind mehr und mehr "Produzent seiner eigenen Umgebung" (Lerner, 1984) und wählt die Personen, mit denen es in Interaktion tritt, danach aus (Bowlby, 1976). Bei Gewalttätern kann man oft beobachten, dass gerade diese Personenauswahl, die ja auch einen positiven Effekt erzielen könnte, durch die mangelnden sozialen Fähigkeiten fast gänzlich unterbleibt. Insofern werden die vorhandenen, negativen mentallen Modelle von der (bedrohlichen, feindseligen) Umwelt quasi unkorrigiert selbstverstärkt.

Mit der Methode des Adult Attachement Interviews (Main & Goldwyn, 1985) konnte die sog. transgenerationale Tradierung von Bindungsmustern nachgewiesen werden. "Personen mit einem sicher-autonomen Arbeitsmodell räumen Bindungen und damit verbundenen Erfahrungen einen hohen Stellenwert ein, sie haben einen guten Zugang zu ihren Gefühlen und können damit auch negative Erfahrungen in eine positive Grundhaltung integrieren. Sie haben im Rahmen einer unterstützenden Bindungsgeschichte gelernt, mit belastenden Erfahrungen umzugehen. In belastenden Situationen sind sie durch ihre Fähigkeit zur Wahrnehmung auch negativer Gefühle zu einer realistischen Einschätzung der Situation in der Lage und können so adäquate individuelle oder soziale Strategien zur Bewältigung der Situation ergreifen. Personen mit einem unsicher-vermeidenden Modell sind sehr distanziert gegenüber Bindungsthemen und erinnern sich kaum an Ereignisse und Gefühle in ihrer Kindheit. Aus Angst vor Zurückweisung haben sie gelernt, negative Gefühle zu verdrängen. Dies kann verbunden sein mit unrealistischen Idealisierungen oder auch Abwertung der eigenen Person, der Bindungspersonen und der Umweltbedingungen. Durch die hohe Wahrnehmungsschwelle für negative Gefühle sind sie in belastenden Situationen zu einer adäquaten realistischen Situationsbewertung und damit zur Bewältigung nicht in der Lage (Inkohärenz). Bei Personen mit einem unsicher-ambivalenten Arbeitsmodell kommt sehr deutlich Verstrickung, Verwirrung, Widersprüchlichkeit und auch Ärger bezüglich früherer Beziehungen zum Ausdruck. Sie sind schlecht in der Lage, unterschiedliche Gefühle zu integrieren. Das desorganisierte Arbeitsmodell äußert sich in verbalen und gedanklichen Inkohärenzen und Irrationalitäten, wenn über traumatische Erfahrungen wie Tod, Trennung oder Mißbrauch gesprochen wird" (Spangler, 1998).

Alterbedingte Veränderungen im Bindungsverhalten

Im folgenden möchte ich kurz den Veränderungsprozess beschreiben, der sich durch die verschiedenen Altersstufen zieht.

Die Bindungstheorie beschreibt, wie bereits dargestellt, die Entstehung und Entwicklung eines Bezugssystems des Kindes zu einer oder mehreren Bezugspersonen. Dieses System wird besonders in Bedrohungs- oder Stresssituationen aktiviert und kann dem Kind, je nach Qualität des Bindungssystems, als Schutzfunktion dienen.

Ab dem 6. Lebensmonat beginnen sich diese Strukturen zu organisieren. Dabei baut ein Kind Modellvorstellungen von der Verfügbarkeit seiner Eltern auf, die sich in der weiteren Entwicklung stabilisieren und dafür verantwortlich sind, welche sozialen Fertigkeiten ein Kind entwickelt. So besaßen bsplw. 10-jährige, die mit 12 Monaten sicher gebundene Kinder waren, eher ein festes Netz von Freunden und hatten weniger Probleme mit Gleichaltrigen als unsicher gebundene Kinder (Scheuerer-Englisch, 1989). 10-jährige, die von ihrer Mutter als "nicht-unterstützend" sprachen, besaßen als 16-jährige eine unsicher-distanzierte Bindungsrepräsentation (Zimmermann, 1997, S. 213).

Mit zunehmendem Alter lernen Jugendliche, dass sie Probleme selbst bewältigen können und müssen, sie entwickeln Copingstrategien im Umgang mit Stress oder Belastung und entfernen sich so mehr und mehr von ihrer ursprünglichen Bindungsperson. Dabei erlischt die Bindungsbeziehung allerdings nicht ganz, sondern sie versteckt sich eher im Hintergrund und äußert sich nicht mehr im Suchen nach körperlicher Nähe, sondern vielmehr durch psychologische Nähe oder Kommunikation (Bowlby, 1983). Unsicher gebundene Kinder besitzen dabei allerdings die Schwierigkeit oder beinahe Unfähigkeit, neue Bindungsbeziehungen (z.B. zu Gleichaltrigen) eingehen zu können. Sicher gebundene Jugendliche (16-17 Jahre alt) besitzen dagegen ein höheres Maß an sozialer Kompetenz, weniger Feindseligkeit, Ängstlichkeit und Hilflosigkeit (Zimmermann, 1994).

Die Bindungsqualität ist in ihrer Stabilität sehr von der gleichzeitigen Stabilität der Lebensumwelt des Kindes abhängig. Vom Kleinkindalter bis zum Jugendalter reicht die sog. "sensitive Phase", in der sich das Vertrauensverhältnis zu und an die Bindungsperson(en) bildet und verfestigt und "für den Rest des Lebens relativ unverändert bestehen bleibt" (Bowlby, 1983, S. 246). Umweltveränderungen, die direkt die Gefühlswelt des Kindes betreffen, können zu einer Veränderung der Bindungsqualität führen und zwar sowohl in positiver als auch in negativer Art und Weise. Solche Veränderungen können z.B. das Hinzukommen einer neuen Bindungsperson (Großeltern, Geschwister), die Einstellungsänderung der Mutter zum Kind oder die Änderung der Lebensbedingungen der Eltern sein. Als besonders risikoreich gelten dabei die Trennung des Kindes von den Eltern, schwerwiegende Erkrankungen, Verlust eines Elternteils aber auch die Disharmonie vor einer Scheidung der Eltern, die bereits vor der eigentlichen Trennung in ihrem Effekt nachzuweisen ist (Block, Block & Gjerde, 1986).

In einer Studie des FBI an 36 Sexualmördern (Serienmördern) zeigte sich, dass in 47% der Vater vor dem 12. Lebensjahr des Kindes die Familie verließ; in 72% der Fälle bestand eine negative Beziehung zu (anderen) männlichen Bezugspersonen; über 40% lebten vor ihrem 18. Lebensjahr nicht mehr in ihrer Familie.

Beim familiären Umfeld von Gewalttätern fehlt es aber gerade an entscheidenden Stellen: Kindheit, Vorpubertät (8.-12.Lebensjahr, dort fehlte den meisten Tätern ein Vater, weil er starb, ins Gefängnis kam oder die Eltern sich scheiden ließen), sonstige Identifikationsfiguren in der Pubertät wie z.B. Großeltern (viele der Täter kamen in dieser Phase in Heime oder Gefängnisse (hauptsächlich wegen Brandstiftung), Freundinnen oder Lebenspartner (die meisten Täter sind zu keiner festen Freundschaft fähig). Viele Menschen mit ähnlichen Kindheitserlebnissen überstehen diese Phasen (wenn sie auch in so gehäufter Form nur äußerst selten vorkommen), ohne zum Mörder zu werden, wenn jedoch alles zusammenkommt – "eine abweisende Mutter, das Fehlen des Vaters oder Mißbrauch durch Vater oder ältere Geschwister, Versagen des Schulsystems, Ineffizienz der Behörden und die gleichzeitige Unfähigkeit des Kindes zu einer normalen sexuellen Entwicklung – dann ist der Weg zum abweichenden Verhalten praktisch schon vorgegeben" (Ressler & Shachtman, 1992, S. 114).

Kommen dann als entscheidende Merkmal noch Gewaltfantasien hinzu, so erscheint die "Karriere nach unten" fast unausweichlich. Doch wie entstehen diese Fantasien?

Emotionale Konsequenzen unsicherer bzw. disorganisierter Bindung – Das Entstehen von Gewaltfantasien

Dass elterliches Fehlverhalten zu emotionalen Fehlentwicklungen führen kann, ist vielfach belegt. Beispielsweise beschreiben MALATESTA & IZARD (1984), dass Kinder in den ersten 34 Monaten irritiert und negativ reagieren, wenn sich die Mutter nicht responsiv verhält, also ein stilles unbewegtes Gesicht macht oder dem Kind in Situationen, in denen es emotionales "Rückmeldung" erwartet, den Rücken zuwendet; wenn die Mutter die Wünsche und Signale des Kindes zuwenig oder gar nicht beachtet und sich passiv und abweisend verhält, werden die kindlichen Emotionen ausgedünnt, flachen ab, der emotionale Ausdruck verschwindet, das Kind verhält sich neutral (...) ist dagegen das mütterliche emotionale Verhalten inkonsistent und nicht vorhersagbar, muß das kindliche emotionale Verhalten eine hohe Intensität annehmen, um Reaktionen bei der Mutter hervorzulocken. (GEPPERT & HECKHAUSEN, 1990). HARRIS (1989) fand bei mißhandelten Kindern heraus, dass sie gegenüber Gleichaltrigen sehr häufig aggressiv werden, in der Not weniger oft und weniger gerne beistehen. Mißhandelte Kinder reagieren auf Signale wie Weinen oder Trauer häufiger mit Feindseligkeit, Drohungen und körperlichen Attacken (MAIN & GEORGE, 1985). Ein nichtresponsiver, kalter, disziplinierter und herabwürdigender Erziehungsstil kann beim Kind später zu Mitleidlosigkeit, Gewalttätigkeit und gestörten sozialen Beziehungen führen (ULICH & MAYRING, 1992; MANTELL, 1978). Emotionale Fehlentwicklungen können zu Verzerrungen der Selbstwahrnehmung oder zum Verschwinden von Gefühlszuständen beim Kind führen (LEWIS & MICHALSON, 1982).

Mangelnde Responsivität seitens der Erzieher wird dann besonders fatal, wenn dadurch das Bedürfnis des Kindes nach Sicherheit und Geborgenheit frustriert wird. Dadurch werden Reaktionen des Kindes wie Ärger oder wütender Protest begünstigt, weil eine Verletzung des Selbstwertes stattfindet. "Das Aggressionsmotiv wird dann stark entwickelt werden, wenn es einen hohen funktionalen Wert für die zentralen Anlagen der Persönlichkeit hat; die Motivgenese wird unter dieser Betrachtung selbst zum 'motivierten Prozeß'. Dabei scheint ihr Ziel vor allem in der Aufrechterhaltung oder (Rück)Gewinnung eines positiven Selbstkonzeptes zu bestehen.Gestützt werden diese Annahmen durch Befunde, die die Selbstwertverletzung des Kindes transkulturell als wesentliche Antezendenzbedingung unterschiedlicher Motivausprägunggen aufzeigen konnten" (KORNADT, 1989b).

Carlson et al. (1989) verglichen in einer Studie 22 mißhandelte oder vernachlässigte Kinder im Alter zwischen 11 und 16 Monaten mit nicht-misshandelten Mutter-Kind-Paaren bzgl. ihrer D-Bindung. Dabei fanden sie u.a. folgende Ergebnisse:

Dieser hohe Anteil von 82% D-Bindungen unter den mißhandelten Kinder steht im Gegensatz zu den "normalen" Raten bei Untersuchungen, in denen keine mißhandelten Kinder beobachtet wurden. Dort schwankt die Zahl der zunächst als nicht-klassifizierbar, später als "D"-klassifizierten Kinder bei ca. 20%.

Wie läßt sich nun die "caregiving environment" mißhandelter Kinder beschreiben?

In erster Linie handelt sich um eine Umwelt mit inkonsistenter und inkonsequenter Zuwendung (dies beschreiben auch viele Serienmörder); bei 18% der (mißhandelten) Kinder wurde von mehrfachen Mißhandlungsarten berichtet, evtl. vorhandene Geschwister wurden ebenfalls mißhandelt, d.h. das Kind war evtl Zeuge dieser Misshandlung, wobei man davon ausgehen muss, dass die Mißhandlungsrate weit höher ist, als sie den berichtenden Sozialarbeitern bekannt war.

Essentiell für das Entstehen einer disorientierten Bindung ist das Hinzukommen von Angst zu einer ansonsten möglicherweise adäquaten Erziehung. Angst und Vorsicht werden vertraute Emotion für mißhandelte oder vernachlässigte Kinder. Aus der inkonsequenten Verhaltensweise der Eltern, in der Fürsorge und Strafe unsystematisch wechseln, entsteht bei Kindern das für eine D-Klassifikation typische Annäherungs-Vermeidungs-Verhalten: Das Kind versucht nach der Trennung zur Mutter zu gelangen, erstarrt aber inmitten dieser Bewegung, weil es nicht sicher sein kann, welche Reaktion es erwarten wird.

Etwas ungewöhnlich im Rahmen der Bindungsforschung war der hohe Anteil von D-klassifizierten Jungs. Im Allgemeinen existieren keine Geschlechtsunterschiede bei der Entstehung der Bindungsformen. Zahlreiche Studien belegen allerdings, dass Jungs weitaus verletzlicher reagieren auf psychische Beeinträchtigungen als Mädchen (bsplw. Zaslow & Hayes, 1986) bzw. dass unsicher gebundene Jungen mehr Probleme in ihrer sozialen Kompetenz entwickeln.

Die These, dass emotionale Störungen zu einer Schwächung des Selbstwertgefühls führen können, wurde bereits aus den Forschungen zur kognitiven Entwicklung von Piaget & Inhelder untersucht (Inhelder, 1968). Dabei finden sich Parallelen zu Erkenntnissen der Bindungsforschung, dass die Güte einer Mutter-Kind-Bindung einen erheblichen Einfluss auf die Fähigkeit und die Bereitschaft des Kindes haben, seine Umwelt zu erforschen. Unsicher gebundene Kinder weisen große Defizite in ihrem Erkundungsverhalten auf, weil sie nicht wissen, welche Reaktionen dieses Verhalten bei der Mutter hervorruft; gleichzeitig entsteht ein Selbstbild, das von mangelndem Selbstvertrauen geprägt wird, was wiederum das Erkundungsverhalten einschränkt.

Desorganisierte Kinder zeigen auch mit zunehmendem Alter besondere Reaktionen auf Trennungssituationen. Solomon & George (1991) fanden in einem Puppenspiel über Eltern-Kind-Trennung bei 6jährigen ängstlich-gewalttätige und katastrophenähnliche "alptraumartige" Phantasien ohne Lösung des Problems. Gewalttätig-bizarre Phantasien wurden ebenfalls in einer Untersuchung von Cassidy (1988) bemerkt. Dort zeigten die Kinder in Interviews im Anschluss an die Puppenspiel-Situation überwiegend Aussagen über die eigene Wertlosigkeit. Das durch die Mutter vermittelte Bild der Umwelt stellt sich als bizarr und ebenfalls desorganisiert dar. Dies wird für die Kinder insofern bedrohlich, als ihre eigene Aggressivität wie auch die der Umwelt nicht kontrollierbar erscheint. Diese Kinder haben wenig Vertrauen darauf, dass jemand in Gefahrensituationen oder Bedrohungen für sie da sein wird. Diese Einstellung führt zu einem Bild der Umwelt als feindselig und läßt die Kinder ebenso ärgerlich und feindselig reagieren, wenn eigentlich Bindungssysteme (also Schutzsuche) aktiviert werden sollten.

Ein Kind kann diese Traumata, die durch die Misshandlung oder das Beobachten einer solchen entstehen, nicht ohne Hilfe verarbeiten. Dadurch entstehen ebenfalls Fantasien, Tagträume. In der Literatur wird immer wieder davon berichtet, dass

Auch hierfür finden sich Beispiele im Verhalten von Serienmördern oder Serienvergewaltigern. Sie reagieren oft außergewöhnlich heftig und aggressiv auf leichteste Beeinträchtigungen.

" Ich reagiere zuerst auf Kritik mit Ärger, automatisch, weil ich glaube, dass Kritik mich beschneidet" (J. Bartsch, zit. in Moor, 1991, S. 187)

Serienmordtaten enthalten in fast allen bekannten Fällen extreme sadistisch sexuelle Komponeten. Die lange gültige Theorie von übersteigerten Sexualtrieb ist heute kaum noch haltbar (vgl. bsplw. BURGESS et al., 1986; FBI, 1985; FÜLLGRABE, 1983, 1992; GÖBEL, 1993), statt dessen wird eine extrem aggressive Motivation angenommen. Es gibt also, wie SCHMIDT (1983) aufzeigt, nichtsexuelle Motive im Sexualverhalten. Er schreibt: "Sexualität erhält über den autochtonen Charakter hinaus Qualitäten von Intensität und Dynamik aus anderen als sexuellen Quellen, sie erlangt ihre Intensität und die Indienstnahme nichtsexueller Motive und Affekte". Insbesondere in der Perversion, speziell im Sadismus, kommt dies zum Tragen: MARQUIS DE SADE beschrieb bereits sehr ausführlich, wie das perfekt geplante, ungeheuerliche, sich über alle Grenzen hinwegsetzende Verbrechen Grundlage größtmöglichen Genusses werden kann. Die Überwindung von Tabus und Normen machen für ihn sexuellen Genuß aus. "Die Bedeutung solcher Erlebnisinhalte für sexuelles Verlangen und Lust ist am einfachsten bei den Perversionen zu erkennen." (SCHMIDT, 1983). Beispielsweise charakterisiert STOLLER (1976,1979) Perversionen als erotische Form des Hasses. Der Orgasmus ist nicht nur Ejakulation, sondern ein "megalomaner Ausbruch von Freiheit." Die sexuelle Befriedigung resultiert aus dem Erlebnis der Konfliktlösung, der Angstüberwindung, des lustvollen Triumphes über die Demütiger (STOLLER, 1975). Für MORGENTHALER (1974) ist die Triebbefriedigung im perversen Akt sekundär, oft merkwürdig bedeutungslos. SCHMIDT (1983) leitet aus Stollers Untersuchungen drei Prozesse ab, die für die Perversion und in geringem Maße für die sexuelle Erregung überhaupt von Bedeutung sind:

Diese von STOLLER beschriebene Wirkungsweise von Sexualität wurde insbesondere von SCHORSCH (1978) kritisiert. Er führt aus, dass nicht nur Feindseligkeit intensive Sexualität möglich mache, sondern dass auch "alte kindliche Wünsche und Sehnsüchte, Ahnungen von früheren paradiesischen Glückszuständen in ihr wieder aufleben können." In Anlehnung an GOLDBERG (1975) nennt SCHMIDT (1983) dies die Sexualisierung von Affekten und formuliert, dass "Affekte schmerzhafte wie Angst, Scham,Schrecken und Demütigung, aggressive wie Wut und Haß oder aber auch positive wie Freude und Bestätigung ins Sexuelle transformiert und sexuell als Verlangen, Anziehung und Erregung erfahren werden. Die Intensität sexuellen Verlangens und Erlebens sowie das Ausmaß der Befriedigung hängt von in der Regel nicht bewussten und erkennbaren, oft nur aus der Biographie verständlichen symbolischen Bedeutungen einer sexuellen Handlung ab und nicht etwa von der Stärke des 'Triebdruckes'." Sexualität und Perversionen können also eine Art umgeleitete Feindseligkeit darstellen, aus der letztlich eher aggressive als sexuelle Handlungsziele entstehen.

Bevor diese extreme Motivation in letzter Konsequenz zu Morden, also der tatsächlichen motivierten Handlung, führt, haben die Täter meistens stark gewalthaltige Phantasien. Das FBI (1985) schreibt dazu: "Diese Phantasien sind extrem gewalttätig und reichen von Vergewaltigung bis hin zu Verstümmelungen oder Quälen und Mord. Diese Phantasien bewegen sich jenseits normaler sexueller, vergnügungsorientierter Tagträume". Deshalb stellt FÜLLGRABE (1992) auch die Frage nach der Entstehung sadistischer Phantasien. Er bezieht sich dabei auf die schon mehrfach zitierte FBI-Studie an Serienmördern. 56% der Täter hatten Vergewaltigungsphantasien, bevor sie 18 Jahre alt waren. Knapp 40% der Kinder wurden in ihrer Jugend selbst sexuell mißbraucht.

John Joubert berichtete über erste Gewaltphantasien im Alter von 6 oder 7 Jahren: Darin schlich er sich von hinten an seinen Babysitter heran, erwürgte sie und fraß sie mit Haut und Haaren auf. Später bei der Ermoderung seiner Opfer verwirklichte er die Phantasien, die er seit seinem 7 Lebensjahr ständig perfektioniert hatte.

Peter Kürten gab bei einer Vernehmung zu Protokoll: "Wenn ich mir vorgestellt habe, dass ich einem den Bauch aufgeschlitzt habe oder sonst schwer verletzt, dabei erfolgte endgültige Befriedigung (...) ich habe mir auch vorgestellt, Massenkatastrophen herbeizuführen mittels Bazillen, die ich ins Trinkwasser befördere (...) ich habe mir noch weiterhin vorgestellt, so irgendwie Schulen oder so zu benutzen und da durch Verschenken von kleinen Schokoladenproben, die man hätte vergiften können mit Arsen die Morde auszuführen. (LENK & KAEVER, 1974).

Schaut man sich die Beschreibungen der Phantasien an, die Serienmörder liefern, so handelt es sich dabei meist um vorweggenommene, später in ähnlicher Form realilsierte Handlungen. Zugleich werden mögliche Handlungsfolgen und damit verbundene Erwartungsemotionen kalkuliert. "Prozesse des 'Vorstellens' haben mit denen des 'Wahrnehmens' und 'Handelns' eine Reihe von Elementen gemeinsam" (KORNADT & ZUMKLEY, 1992)

Nicht alle Kinder reagieren auf ihre Umwelt mit Gewaltphantasien und auch nicht alle, die solche Phantasien haben, leben sie letztlich auch aus. Was Serienmörder als Kinder von diesen Kindern unterscheidet, ist der hohe Egozentrismus in seinen negativen, aggressiv-sexuellen Phantasien (BURGESS et al.,1986). Auffallend war bei den Interviews mehrerer Serienmörder, dass nie von positiven Phantasien oder Träumen berichtet wurde. Unklar bleibt dabei, ob es solche Träume nie gab oder ob sie durch die starken Gewaltphantasien nur in der Erinnerung verdrängt wurden. Die dabei entstehende Verbindung von Sexualität und Gewalt kann viele Ursachen haben; eine mögliche könnte in der Tatsache liegen, dass viele Serienmörder als Kind sexuell mißbraucht oder Zeuge eines solchen Mißbrauchs (bsplw. an Geschwistern) wurden(s.o). Diese aggressiven Phantasien brechen dann im Spiel mit anderen Kindern irgendwann durch. Ein Täter berichtete, dass er im Alter von 15 Jahren jüngere Jungen mit ins Badezimmer geschleppt hätte und dort oralen und analen Sex gefordert hätte; dabei "spielte" er seine eigenen Erlebnisse im Alter von 10 nochmals durch, diesmal aber in der Rolle des Überlegenen und nicht des Opfers (BURGESS et al., 1986).

Eine dominante Rolle in Gewaltphantasien spielen Tod und Mord. "Tod ist ein Beispiel für größtmögliche Kontrolle" (BURGESS et al., 1986). Kontrolle über die Umwelt zu haben bedeutet Sicherheit und Stärke, denn es kann keine unvorhergesehenen, nicht zu bewältigende Situation eintreten, die bedrohlich wäre. Wer Kontrolle hat, hat Macht und Stärke und ist damit sicher vor Bedrohungen. Diese Argumentationskette entwickelt sich zunächst in der Phantasie, jedoch kam bei allen Serienmördern irgendwann der Punkt, an dem Phantasien allein nicht mehr ausreichten, um das gewünschte Geborgenheits und Sicherheitsgefühl zu erzeugen, es entstand der Wunsch nach Realisationen. Damit beginnt in der Regel die Mordserie. Falls die Täter nach den ersten Mord nicht direkt verhaftet werden, schließt sich der Kreis und scheinbar bestätigt sich die Phantasie. Eine Vermischung von Schein und realer Welt tritt ein.

Die schlechte kognitive und emotionale Entwicklung unsicher gebundener D-Kinder ist in vielen Studien gezeigt worden:

Jede Form der unsicheren Bindung muss "als wichtiger Risikofaktor eingestuft werden, weil die internen Arbeitsmodelle, die sich auf eine unsichere Bindung hin entwickeln, eher zu unangepasstem Verhalten anderen gegenüber, zu Fehleinschätzungen anderer im Hinblick auf deren Pläne und Ziele und zu einer mangelhaften Integration und Kohärenz der Gefühle, vor allem negativer Gefühle in Zusammenhang mit Belastungen, führen" (Fremmer-Bombik, 1997).

Diese Argumentationsfolge läßt sich durch einige Daten der FBI-Studie (zit. nach FÜLLGRABE,1992) konkretisieren:

Die bislang eher theoretisch gehaltenen Ausführungen zur Bindungstheorie zeigten, dass es bisher in diesem Themenfeld vernachlässigte Ansatzpunkte gibt, die dazu beitragen können, die entscheidenden "Entwicklungspunkte" im Leben von Serienmördern beschreiben zu können: Dies waren in erster Linie


Der neue Tätertyp "Suche nach Liebe":

Warum nun diese zugegebenermaßen lange theoretische Einleitung? Weil die bisherigen Tätertypologien m.E. nicht ausreichen, um eine bestimmte Gruppen von sowohl Serienmördern als auch Serienvergewaltigern in ihrem Antrieb, also ihrer Motivation, zu erkennen.

Als Beispiel möchte ich folgende Aussagen zitieren:

Die Beziehung zur eingangs geschilderten Bindungstheorie wird hier deutlich: Diese Aussagen deuten auf eine Suche nach Geborgenheit, nach Liebe, nach unverletzlichem Vertrauen hin, das diese Menschen in ihrer Kindheit nie erlebt haben. Die Morde geschehen dann oft aus der Angst, das "Bindungsziel" könnte sie frustrieren, indem es wegläuft, sie verhöhnt oder verletzt. Der Wunsch nach Geborgenheit ist so stark, dass er mit den Mitteln zu erlangen versucht wird, die sich in der Phantasie des Täters festgesetzt haben, und das ist die Gewalt. Irgendeine Form von Perspektivenwechsel, also die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu erkennen, ja zu erkennen, dass diese überhaupt Gefühle besitzen oder als Individuum wahrzunehmen, fehlt ihnen völlig. Dies kann (und ich sage mit gebotener Vorsicht "kann") aus den bereits in der Kindheit entstandenen Bindungsfehlern erwachsen sein.

Stabilität und Determinismus der Bindung

Vielfach werden die Stabilitätsergebnisse der Bindungsforschung fälschlicherweise als Determinismus begriffen. So wird ab und an sogar der Vorwurf laut, das Paradigma der Bindungsforschung sei, dass sie die Bindungsqualität im ersten Lebensjahr als trait betrachte (Lewis & Feiring, 1991). Dies würde heißen, dass es lediglich bei der Erziehung der Kinder auf das erste Lebensjahr ankäme, danach könne man sie ruhig allein lassen; dies stimmt natürlich so nicht.

Die empirischen Ergebnisse zeigen in recht beeindruckender Weise eine relativ große Stabilität vom Kindes- bis zum Jugendalter. Dies bedeutet aber nicht, dass Änderungen in dieser Phase nicht möglich seien. So ist es durchaus beobachtbar, dass sich unsichere Bindungen durch erhöhte Aufmerksamkeit der Bezugspersonen, Veränderungen der Lebensbedingungen der Eltern oder eine Einstellungsänderung zwischen Mutter und Kind zu einer sicheren Bindung ausbauen können. Besonders die Lebensspanne bis zum 16. Lebensjahr wird in der Bindungsforschung als "sensitive" Phase angesehen, in der sich das Bindungssystem und die damit verbundenen emotionalen und kognitiven Entwicklungen festigen.

Genau diese Phase ist es aber auch bei Serienmördern, die die meisten Defizite aufweist, die bereits an anderer Stelle beschrieben wurden (wenig responsive Mütter, Vater nicht als Identifikationmodell vorhanden, keine Stabilität im sozialen Umfeld, durch Heimaufenthalte wechselnde Bezugspersonen, wenig Freunde, schlechte kognitive Entwicklung, große frustrationen durch die Umwelt, Misshandlungen usw.). Diese "negtive" Stabilität festigt sich dann im Bindungssystem des Jugendlichen und wird zu späteren Zeitpunkten immer schwerer zu korrigieren.

Beispiele


Literatur

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